Vorarlberger Stickereien haben ihre einst überragende Bedeutung für Nigeria verloren – über den Handel zwischen Westösterreich und Westafrika einst und jetzt.
Von Edith Rhomberg
Es war wie so oft heiß in Nigerias größter Stadt Lagos, als ein österreichisch-nigerianisches Paar seinen Lokalaugenschein durchführte. Auf dem großen Balogun Market war es wie immer laut und quirlig. Der Markt gilt als der beste Ort, um Stoffe, Schuhe und allerlei Waren zu kaufen. „Für meinen Mann war das eine besondere Erfahrung und vermutlich ein Kulturschock, während unseres Besuches hier einzukaufen“, sagte Vivian Suru John-Denk, die in Nigeria geboren ist. 2017 besuchte sie zusammen mit ihrem Mann Lagos, Stoffe und Stickereien durften dabei als Teil des Programms nicht fehlen.
John-Denk hat in Nigeria sowie in Südafrika ein Chemie-Studium absolviert und kam dann nach Linz, in die Heimatstadt ihres Mannes. Als gebürtige Nigerianerin kann sie bestätigen, dass es im westafrikanischen Land wichtig ist, immer gut angezogen zu sein. Traditionelle Kleidung war dabei lange vor allem aus Stoffen made in Austria geschneidert: „Austrian Lace“ (Österreichische Spitze), wie Vorarlberger Stickerei in Nigeria genannt wird, ist für John-Denk bis heute ein Begriff, obwohl die Spitzenzeit im doppelten Sinne des Wortes vorbei ist.
Als sich die Handelsbeziehungen zwischen Lagos und Lustenau, dem zentralen Ort für den Textilexport im „Ländle“, anbahnten, war sie noch nicht geboren: In den 1960er Jahren fanden nigerianische Geschäftsleute aus dem Textilbereich ihren Weg über London nach Lustenau. Die Vorarlberger Stickerei-ProduzentInnen erkannten in HandelspartnerInnen aus Westafrika im Allgemeinen, aber vor allem aus dem Mega-Staat Nigeria neue Absatzchancen.
Ein neuer Markt hatte sich aufgetan – zusätzlich zu den seit Jahrzehnten bestehenden Abnehmern in Europa, aber auch in Asien (Indien und Japan) oder Südamerika, die Stickereien für Damenbekleidung, Dessous, Bettwäsche oder Heimtextilien fertigen ließen.
Aufschwung. Das Timing für den Handel zwischen Lagos und Lustenau war gut: Nicht zuletzt aufgrund der 1956 im Süden Nigerias entdeckten Erdölvorkommen waren besonders die 1970er Jahre ökonomisch durch einen Ölboom gekennzeichnet. Durch den Aufschwung wurde in manchen Kreisen – nicht alle profitierten – der Ruf nach Prestige und Luxus laut.
Für wohlhabende nigerianische BürgerInnen von damals wurden noble deutsche Autos, Goldschmuck aus Italien, französischer Champagner und luxuriöse Bekleidung zu Objekten der Begierde. Die Vorarlberger Stickerei zählte dazu.
Die Geschäftsbeziehungen zwischen Westösterreich und Westafrika entwickelten sich trotz 6.000 Kilometer Entfernung gut, u.a. durch persönliche Kontakte innovativer Geschäftsleute.
Die Vorarlberger DesignerInnen brachten edle Blumenmuster, die ihrer Fantasie entsprangen, zu Papier. Die Nadeln der 10 oder 15 Yards (ein Yard entspricht 0,91 Meter) langen Stickmaschinen übertrugen diese Muster in prächtigen Farben auf die Stoffe, auch Gold- und Silberfäden waren gefragt. Für noch mehr Glamour wurden Swarovski-Steine von Hand aufgebracht.
Viele exportierte Stickereien landeten in einem der vielen Stoffgeschäfte in der Kosoko Street in Lagos. Großteils Frauen hatten hier mit ihren kleinen Geschäften den Markt für Austrian Lace in ihren Händen. Immer wieder reisten sie zu ihren Lieferanten nach Lustenau.
In die andere Richtung waren es meist Männer und nur wenige Frauen, die von Vorarlberg aus für die Abwicklung von Aufträgen in die nigerianische Wirtschaftsmetropole flogen.
Spitzen-Tracht. Für die Yoruba, eine wichtige und große Volksgruppe in Westafrika und Nigeria, ist die Kleidung Ausdruck der Standeszugehörigkeit. Bei Festen wie Hochzeiten, Jubiläen oder Beerdigungszeremonien ist es seit jeher Brauch, die familiäre Zugehörigkeit durch die Wahl des Aso ebi, einer einheitlichen, zuordenbaren Familientracht, zu zeigen.
Für das traditionelle Kleid samt dem „Head Tie“, der Kopfbedeckung, benötigt eine Frau fünf Yards, also rund viereinhalb Meter Stoff.
Von Dutch Wax zu Austrian Lace
Die Stickerei-Erzeugung in Vorarlberg hat eine lange Tradition, geht bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Die textile Erfolgsgeschichte des „Austrian Lace“ knüpft hundert Jahre später gewissermaßen an die von Dutch Wax an. Im 19. Jahrhundert fanden holländische Wachsdrucke auf Baumwollstoffen, eben Dutch Wax, ihren Weg über die westafrikanische Goldküste, dem heutigen Ghana, in viele Länder Westafrikas und andere Teile des afrikanischen Kontinents.
Die farbenprächtig gemusterten Stoffe waren das Ergebnis einer sorgfältigen Marktforschung und Designentwicklung. Die entworfenen Muster und Farben galten als authentisch afrikanisch – sie sind bis heute ein unverwechselbarer Bestandteil der afrikanischen Kultur und Identität. E. R.
Von Anfang an fanden die Yoruba-Damen Gefallen an den leichten Austrian Lace-Baumwollstoffen, Voile, aber auch an Organza, bestickt mit floralen oder geometrischen Mustern. Die Durchbrechung der Stoffe mit Lochstickerei erwies sich bei den warmen Temperaturen als vorteilhaft luftig für die TrägerInnen.
Die formelle Herrenbekleidung in westafrikanischen Ländern ist der große Boubou. Der dreiteilige Anzug besteht aus Hose, Hemd und einem langen Überkleid. Er wird aus zehn Yards Stickerei oder gewebten Damast-Stoffen geschneidert. Besonders kostbar gearbeitete Boubous gelten als Statussymbol.
Analoges Business. Zwischen Vorarlberg und Lagos gab es in den 1970er Jahren keine direkten Telefonverbindungen. Anrufe mussten im Fernamt angemeldet werden, wo sie per Hand vermittelt wurden. Ein Fernschreiber, der Vorgänger des Faxgerätes, bot sich da oder dort als Alternative an.
In Lagos ein Zimmer im zentral gelegenen Bristol Hotel in der Martins Street zu bekommen war nicht einfach, ein Vorwärtskommen mit dem Taxi wegen anhaltender Verkehrsstaus schwierig bis unmöglich.
Kurze Wege, die man zu Fuß zurücklegen konnte, waren daher für den Dienstaufenthalt gefragt.
Dass der Zeitbegriff zwischen Nord und Süd beträchtlich abweichen konnte, mussten viele GeschäftspartnerInnen erst lernen. Wer in Nigeria „in wenigen Minuten“ sagte, konnte doch etwas ganz anderes meinen.
Im Buch „Margret's African Connection“ beschreibt die Dornbirner Autorin Margarethe Bösch, dass sich ein Kunde, der „any minute from now“ in Lagos zum vereinbarten Termin erwartet wurde, womöglich noch in London aufhielt.
In die Zeitspanne einer Geschäftsreise fiel meist ein Wochenende oder zwei. Die Gelegenheit, einen Tag am Strand zu verbringen, bot sich als erholsame Auszeit an. Badagry Beach, ein Palmenstrand 80 Kilometer westlich von Lagos, schien paradiesisch, nachdem man dem Großstadtdschungel entflohen war.
So manche nigerianische Händlerin trat in Lagos in Flip-Flops ihre Reise Richtung Vorarlberg an, mit wenig Gepäck, viel Geld und einem Behälter voller zubereitetem Essen. Ziel des Fluges war Zürich, dem von Vorarlberg am nächsten gelegenen größeren Flughafen. Von dort ging es meist mit dem Taxi ins circa eine Stunde entfernte „Ländle“.
In Lustenau beherbergte das Sporthotel Huber Gäste aus Afrika, oder man checkte ins Hotel Linde ein. Die Inhaberin wurde respektvoll „Mama Linde“ genannt. Die Geschäftsleute gehörten bald zum Ortsbild.
Konkurrenz aus Asien. Mitte der 1980er Jahre brach das Geschäft ein. Vor allem nachdem internationale Konkurrenz, hauptsächlich aus China, den Markt für sich entdeckt hatte. Dieser wurde mit Massenware zu billigen Preisen regelrecht überschwemmt. HändlerInnen in Lagos und anderswo blieben immer öfter auf der hochwertigeren Ware aus Österreich sitzen.
Die Bedeutung, die die Vorarlberger Stickereiwirtschaft bis in die frühen 1980er Jahre hatte, war dahin: Waren es bis dahin 1.400 Großstickmaschinen, die Stoffe für den weltweiten Bedarf produzierten, beträgt die Kapazität des heutigen Maschinenparks nur noch etwa ein Zehntel davon.
In den 1970er Jahren war die Textilindustrie noch Vorarlbergs Leitindustrie, heute erwirtschaftet sie rund acht Prozent an der Gesamtwertschöpfung.
Die verbliebenen Vorarlberger Stickereifirmen sind trotz allem heute gut aufgestellt. 2018 wurde in 80 Länder weltweit exportiert. Fast die Hälfte der Exporte geht nach wie vor nach Afrika, teils über den Umweg London.
Neue Partnerschaften. Ein Beispiel für ein Unternehmen, das sich ganz an die Bedürfnisse der KundInnen angepasst hat, ist Getzner. Die Vorarlberger Firma mit verschiedenen Standorten im In- und Ausland hat 2019 in Lustenau ein neues Geschäft eröffnet. Das Angebot richtet sich besonders auch an internationale HändlerInnen und KundInnen, inklusive jener mit Verbindungen zu Afrika. So befindet sich für die muslimischen GeschäftspartnerInnen – viele haben nigerianische Wurzeln (rund die Hälfte der Bevölkerung des 200 Millionen EinwohnerInnen zählenden Staates sind MuslimInnen) – etwa ein Gebetsraum im Haus.
Geschäftsführerin Nicole Bösch und ihr Team wollen auf Qualität und hochwertige Stoffe bedachte KundInnen ansprechen. Das Geschäft läuft derzeit gut: „Nach dem intensiven Weihnachtsgeschäft muss nach und nach wieder ein Lagerbestand aufgebaut werden“, erklärt Bösch. Für das Fest des Fastenbrechens am Ende des Fastenmonats Ramadan Ende Mai sollte das an den Shop angrenzende Lager wieder voll sein, denn Getzner erwartet dann eine starke Nachfrage. Was die KundInnen, einige davon sind langjährige GroßabnehmerInnen, heute an den Vorarlberger Stoffen schätzen, ist ihre Qualität.
Bösch und Edith Okolo, eine aus Nigeria stammende Mitarbeiterin, reisen hin und wieder geschäftlich nach Lagos. Die nigerianische Metropole und das Ländle sind also auch heute noch miteinander verbunden und haben ihre (textilen) Verknüpfungen in Zeiten harter Konkurrenz nicht verloren.
Edith Rhomberg reiste in verantwortlicher Position für die ehemaligen Lustenauer Stickereiexport-Firmen Lace+Textil, Bitessa und Jacob Rohner nach Nigeria. Sie hat am Buch „SpitzenZeit. Vorarlberger Erinnerungen zum Stickereiexport nach Nigeria“ mitgearbeitet.
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